Corinto – Der wichtigste Hafen des Landes

Corinto liegt auf einer Halbinsel und hat ca. 20.000 Einwohner. Der Hafen und die Fischerei sind die wichtigsten Wirtschaftszweige der Stadt. Zwei Brücken verbinden die Halbinsel mit dem Festland und auch mit der Partnergemeinde El Realejo.

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Einwohnerca. 20.000
Gründung1858
Höhe1m
ZeitzoneUTC-6

Corinto liegt 152 km von der Hauptstadt Managua entfernt, die Stadt bildet eine Halbinsel, 49 qkm groß und durchschnittlich nur 2,5 Meter über Meeresspiegel. Die jährliche durchschnittlichen Temperatur beträgt 30 – 36 grad celsius.

Der Hafen – Tor zur Welt

Corinto wurde 1858 gegründet. Nachdem die Küste um El Realejo zunehmend verlandet war, und der ursprünglich dort angesiedelte Hafen nicht weiter angefahren werden konnte, entstand in Corinto ein neuer Hafen und damit ein neues „Tor zur Welt“. Im 19. und 20. Jahrhundert entwickelte er sich zum wichtigsten Hafen Nicaraguas. Bis heute werden rund zwei Drittel aller maritimen Im- und Exporte des Landes über den „Puerto Corinto“ abgewickelt. Auch Kreuzfahrtschiffe gehen in Corinto gelegentlich vor Anker und bieten der Stadt damit einen Zugang zum Tourismus.

Lebensraum Mangrovenwald

Mangrovenwälder prägen die Bucht von Corinto. Ökologisch sind sie ein wichtiger Lebensraum für unzählige Tierarten und schützen die Küste vor Erosion. Trotz Verbot wird das Holz der Mangroven seit jeher als Feuerholz und Bauholz genutzt. Der Handel damit bietet vielen Menschen eine Existenzgrundlage. Der Schutz der Mangrovenwälder hängt also auch von alternativen Einkommensmöglichkeiten und einem verbesserten ökologischen Bewusstsein der Bevölkerung ab.

Stadtfeste

Die größten Stadtfeste sind die „fiestas tradicionales de la Santa Cruz“ die in der letzten Aprilwoche beginnen und deren Höhepunkt die „Internacional FERIA GASTRONOMICA DEL MAR“ ist. Diese Festivals ziehen tausende Besucher aus dem ganzen Land an.

Ökonomie und Politik

Neben dem Hafen ist der Fischfang der wichtigste Wirtschaftszweig der Stadt
Der Stadtrat besteht aus dem Oberbürgermeister und 10 Ratsmitgliedern, die alle 5 Jahre gewählt werden.

Stadtimpressionen

Im Herbst 2017 besuchten die Jugendlichen des Zirkus Radelito aus Köln-Höhenhaus und Schülerinnen der Europaschule Kerpen unser Partnerstandt Corinto. Sie wurden vom Journalisten Achim Schmitz-Forte begleitet. Seine Impressionen sind in den nachfolgenden Kapitel nachzulesen. Wir drucken sie ab, obwohl sich die politischen Verhältnisse in Land seither gravierend verschlechtert haben. Geblieben sind die Menschen.

Das haben wir gemeinsam

Hector Romero hat das Lied der Bläck Föös gefallen und er hat eine Gemeinsamkeit zwichen Köln und Corinto gefunden.

Köln und Corinto haben gemeinsam,
dass sie von Menschen bewohnt werden,
die zugewandert sind.
Was man auch in der eklektizistischen Architektur sieht.
Das ist eine Gemeinsamkeit,
die Corinto und Köln verbindet.

Hector Romero, Architekt

 

Su simmer all he hinjekumme,
mir sprechen hück all dieselve Sproch.
Mir han dodurch su vill jewonne.
Mir sin wie mer sin, mir Jecke am Rhing.
Dat es jet ,wo mer stolz drop sin.

Bläck Föös, Musiker

Fahrt in die Mangroven

In dieser Lagune schmatzt es. Laut und saftig. Es klingt, als sei eine Familie von Trollen damit beschäftigt, voller Behagen einen Pudding zu vertilgen. Ein unwirkliches Geräusch. Das einzige, das zu hören ist in der perfekten Stille.

In dieser Lagune schmatzt es. Laut und saftig. Es klingt, als sei eine Familie von Trollen damit beschäftigt, voller Behagen einen Pudding zu vertilgen. Ein unwirkliches Geräusch. Das einzige, das zu hören ist in der perfekten Stille.

Wir haben den Motor des Bootes abgestellt und treiben in einem Sei­tenarm der weitverzweigten Mangrovenwälder um Corinto. Unsere Lancha dümpelt im Schatten unter den verschlungenen Zweigen ei­ner ganzen Front vom Rhizophora mangle, roten Mangroven, der hier heimischen Art. Flirrendes Licht fällt durch die ledrigen Blätter dieser merkwürdigen Pflanzen, die es schaffen, in den Gezeiten des salzigen Meerwassers zu gedeihen.

Zu sehen ist nichts. Wer schmatzt hier so ungeniert? „Conchas“, sagt Richard Martínez lächelnd. Muscheln. Sie leben im Schlamm der La­gune. Jetzt, bei Niedrigwasser, fällt der Boden trocken und die Mol­lusken[V1]  atmen voller Lebensfreude im Morast. „Man kann köstliche Cocktails daraus machen.“ Martínez´ Grinsen bekommt einen Zug ins Genießerische.

Dann verpasst er mir einen Grundkurs in Naturkunde. „Wir haben Reiher gesehen und die Pelikane vorhin, aber hier lebt noch viel mehr.“ Vögel mit Namen wie Chachalaca, Pato de abuja, Gallina de monte oder Palometa, eine Art Möwe. Sie nisten in den Bäumen und freuen sich über das reiche Angebot an Nahrung unten im Wasser. Fische, Krebse, Muscheln und Garnelen finden zwischen den Wurzeln der Mangroven einen idealen und geschützten Lebensraum. Dazwischen, im Unterholz, leben Insekten, kleine Nagetiere, Waschbären, Schlangen und andere Reptilien. Es ist ein ganzes Ökosystem, eine eigene Welt, in der Pflanzen, Tiere, Sonne, Luft und das Meer einander Leben spenden.

Bei Flut scheinen die Mangrovenwälder direkt aus dem Wasser zu wachsen. Bei Ebbe stehen sie wie auf bogenförmigen, grotesk ver­schlungenen Stelzen. Das Geflecht der Wurzeln wirkt vollkommen undurchdringlich. Aber das täuscht. Richard Martínez deutet auf eine Stelle im Wurzeldickicht, die für mich so aussieht wie jede andere. „Da ist eine Caleta“, ein Einstieg, durch den die Holzfäller bei einem bestimmten Wasserstand in eine Gruppe von Bäumen schlüpfen können.

„Das sind hochspezialisierte Experten“, sagt Martínez voller Respekt. Sie wissen sich im Gehölz zu bewegen, wissen, wie sie das Holz schlagen müssen, wie sie es sammeln und wie sie es aus dem Wald herausschaffen können, um es zu verkaufen. Er selbst studiere die Mangroven seit 20 Jahren. Aber zu dieser Arbeit sei er nicht in der Lage.

Es seien nicht die Holzfäller, die den Mangrovenwald bedrohen. „Es ist die Nachfrage.“ Das Holz dient als Baustoff. Vor allem aber wird es verbrannt. Viele Menschen in Corinto verfeuern Mangroven, um zu kochen, so ist es Tradition. Solche kulturellen Gewohnheiten seien schwer zu verändern. Außerdem schwören die Leute darauf, dass das Essen vom Mangrovenfeuer besser schmeckt als jedes andere. Mangrovenholz verleihe einem Eintopf, einer frisch geröste­ten Tortilla oder dem Brot in der Bäckerei ein einzigartiges Aroma. Speisen vom Gasherd seien damit überhaupt nicht zu vergleichen. Was, betont Martínez, auch Zugereiste, selbst Städter aus Managua bestätigten.

Gas als Brennstoff wäre erheblich billiger, auf den Monat gesehen. Aber ein Arbeiter, der im Hafen schuftet, rechnet von Tag zu Tag. Für ihn zählt das Geld, das er am Abend in der Tasche hat. Eine Gasflasche, die anderthalb Monate reichen würde, kann er davon nicht bezahlen. Für ein paar Holzscheite aber reicht es allemal.

Die Stadtverwaltung wirbt dafür, Gasöfen anzuschaffen oder wenig­stens Herde, die das Holz sparsam verbrennen. Mit mäßigem Erfolg. Sie organisiert Kampagnen zur Aufforstung der Mangrovenwälder, versucht die Bevölkerung für das Problem zu sensibilisieren und be­rät die Holzfäller, wie sie ihrer Arbeit auf möglichst nachhaltige Weise nachgehen können. Etwa 40 bis 50 Leñadores aus Corinto leben da­von, Mangroven zu schlagen, weitere 200 aus dem Nachbarort El Realejo kommen hinzu. Die Stadt hat versucht, ihnen andere Ein­kommen zu verschaffen, etwas Saatgut für einen Gemüsegarten, ein paar Hühner, ein Schwein, eine Ziege, als Starthilfe für eine kleine familiäre Subsistenzwirtschaft. Immerhin, das Tempo der Abholzung hat sich verlangsamt. Aber es ist ein mühsamer Kampf.

Die Mangrovenwälder verhindern die Erosion der Küsten, die die Stadt bedroht. Ihre Wurzeln festigen den fangoartigen Boden. „Sie sind so etwas wie die Nieren des Meeres“, sagt Martínez, „ihr Wur­zelgeflecht reinigt das Wasser.“ Die Bäume mildern die Wucht von Stürmen und Hurrikans. Nach einem Seebeben vor der Küste, bei einem Tsunami, würden sie eine Barriere bilden, die das Vordringen der Flutwelle ins Festland hinein hemmt. „Wenn die Mangrovenwäl­der verschwinden, verlieren wir ein ganzes Ökosystem. Hunderte Menschen verlieren ihr Einkommen. Und wir werden dort, wo heute die Bäume stehen, eine ausgetrocknete, wüste Landschaft sehen.“

Wir sitzen eine Weile nachdenklich im Boot und lauschen in die erhabene Lautlosigkeit hinein, die die Lagune erfüllt. Nur die Trolle im Schlick schnalzen und schmatzen weiter träge vor sich hin. „Diese Landschaft hat mich gepackt, sie hat mich gefangengenommen in all den Jahren“, sagt Richard Martínez leise. „Mir gefällt die Ruhe, die hier herrscht. Diesen Frieden finde ich nur hier.“

Dr. Achim-Schmitz-Forte
November 2018

Geotubos – Erosionsschutz

Draußen im Wasser liegt parallel zur Küstenlinie eine Kette riesiger schwarzer Wülste im pazifischen Ozean, die aussehen wie gestrandete Walfische. Oder wie enorme schwarze Müllsäcke, die ein ordnungsfanatischer Riese sorgfältig vor die Küste drapiert hat und die nun langsam im Sand versinken.

Vom Zirkusgebäude an der Avenida Colonia sind es nur ein paar Schritte zum Meer. Hat man die Uferböschung erklommen und den Strand erreicht, bietet sich ein bizarrer Anblick. Draußen im Wasser liegt parallel zur Küstenlinie eine Kette riesiger schwarzer Wülste im pazifischen Ozean, die aussehen wie gestrandete Walfische. Oder wie enorme schwarze Müllsäcke, die ein ordnungsfanatischer Riese sorgfältig vor die Küste drapiert hat und die nun langsam im Sand versinken.

„Das sind die Geotubos, wie wir sie nennen.“ Ingenieur Hector Ro­mero verantwortet dieses Küstenschutzprojekt. „Jeder einzelne ist 20 Meter lang, 2,30 Meter hoch, 5,70 Meter weit und sie liegen 85 Meter entfernt draußen im Meer. Insgesamt erstreckt sich diese Kette über fast zweieinhalb Kilometer und schützt die Hälfte unserer Pazifikkü­ste hier in Corinto.“

Es sind riesige Säcke aus recyceltem Kunststoff, gefüllt mit Sand. Sie brechen die Kraft der Wellen und verhindern so Erosion. Mehr noch, sie helfen, Land zurückzugewinnen. Jede Flut überspült sie und bringt Sedimente mit. Wenn das Wasser sich zurückzieht, bleiben diese Sedimente zurück.

Das ist dringend nötig. Denn Puerto Corinto mit seinen gut 20 000 Einwohnern hat ein ernstes Problem. Die Stadt liegt auf einer Insel an der Pazifikküste Nicaraguas. Und diese Insel wird in alarmie­rendem Tempo vom Meer weggefressen.

Hector deutet hinaus auf das Wasser, sein Zeigefinger beschreibt eine imaginäre Linie weit draußen: „Vor ein paar Jahren lag der Strand noch da hinten im Meer.“ Und der Landfraß geht weiter. Bei jedem Sturm reißt der Pazifik ein Stück Küste mit sich. “Wir kalkulie­ren mit einem Verlust von 300 Kubikmetern Material – am Tag.“

Mit einem Blick nach rechts oder nach links wird deutlich, was das bedeutet. Die Küstenlinie fällt jäh ab zum Strand, an manchen Stel­len flacher, an anderen zwei oder drei Meter tief. Freigespülte Wur­zeln ragen aus der sandigen Kante. Bäume, die sich nicht mehr hal­ten konnten, liegen umgestürzt unterhalb der Böschung. Unmittelbar an der Abbruchkante stehen Behausungen aus Brettern, Latten, Wellblech, Bastmatten, Plastikfolien oder Vorhängen aus Stoff. Wenn sie den nächsten oder den übernächsten Sturm überstehen, können die Bewohner von Glück sagen. Irgenwann wird ihnen buchstäblich der Boden unter den Füßen wegsacken.

Der Klimawandel setzt Corinto längst heftig zu. „Der Meeresspiegel ist gestiegen. Das hat unsere Stadt noch verwundbarer gemacht, als sie es ohnehin schon war“, sagt Hector Romero, Architekt, Ingenieur und Direktor der Bauvorhaben in der Stadtverwaltung. „Die Flut steigt höher als früher, das können wir dokumentieren. Springfluten kom­men häufiger und mit viel mehr Wucht. Die Überschwemmungen, die wir erleben, sind schlimmer als je zuvor.“

Die Phalanx der Geotubos vor der Küste soll den Flächenfraß aufhal­ten. Es ist das wichtigste und teuerste Projekt, das Köln und Corinto bislang gemeinsam auf die Beine gestellt haben. Die Anschubfinan­zierung kam aus einem Programm für kommunale Klimapartner-schaften der deutschen Entwicklungsorganisation Engagement Glo­bal, zusammen mit der Stadt Köln und der Gemeinde Corinto. Später hat die nicaraguanische Regierung sich beteiligt. Erst waren 700 Me­ter geplant, dann 1200, schließlich wurden 2230 Meter daraus. Inzwischen gilt das Vorhaben als nationales Pilotprojekt für ganz Nicaragua[V1] ..( ohne weitere Zahlenangaben.)

Der Städtepartnerschaftsverein in Köln habe diese Zusammenarbeit eingefädelt, berichtet Projektleiter Romero. „Sie haben uns eingela­den, wir konnten unsere Vorschläge präsentieren, und dann entstand ein Pilotprojekt, eben die Arena des Zirkus Colorinto, die zugleich ein Katastrophenschutzraum ist. Damit haben wir bewiesen, dass unsere Stadt große Projektfinanzierungen handhaben kann. Und so haben wir heute diese große Erosionsbarriere zum Schutz unserer Küste.“

Dennoch, Hector Romero bleibt pessimistisch. Der Klimawandel wird fortschreiten. „Die Geschichte wird uns einen Preis abfordern, ganz sicher“, sagt er. „Bis zu dem Punkt, an dem die Stadt Corinto nicht mehr bewohnbar sein wird.“ Wie lange es dauert bis dahin? „Das wissen wir nicht. Das hängt davon ab, wie der Klimawandel sich ent­wickelt. Und davon, was wir unternehmen, um die Folgen zu einzu­dämmen.“

Auf lange Sicht aber droht dem kleinen Corinto dasselbe Schicksal wie Bangkok oder Jakarta, Rio, San Francisco, Miami und vielen anderen Küstenstädten dieser Welt: Sie werden, das ist absehbar, eines Tages im Meer versinken.

Richard – Asistencialismo

Beim Stichwort Asistencialismo redet Corintos Stadtdirektor Richard Martínez sich rasch in Rage. Asistencialismo bedeutet so viel wie: Zuviel Freibier macht süchtig. Oder: Zuviele Almosen verderben den Charakter.

Beim Stichwort Asistencialismo redet Corintos Stadtdirektor Richard Martínez sich rasch in Rage.

Asistencialismo bedeutet so viel wie:
Zuviel Freibier macht süchtig.
Oder: Zuviele Almosen verderben den Charakter.

In den achtziger Jahren, nach der sandinistischen Revolution, ist sehr viel Geld und Hilfe nach Nicaragua geflossen. Nichtregierungs­organisationen, staatliche Entwicklungsagenturen, Kirchen, politische Aktivisten, Künstler, Studenten oder Gewerkschaften wollten ebenso wie befreundete Parteien oder Regierungen Solidarität üben mit die­ser linken, sozial engagierten Revolution und den Menschen in Nica­ragua.

Das war gut gemeint, hatte aber unerwünschte Folgen.

Nicaragua sei mit solidarischer Hilfe geradezu überschüttet worden, sagt Richard Martínez. Das habe völlig übertriebene Ausmaße ange­nommen damals. „Viele Leute saßen dann nur noch da und haben darauf gewartet, alles geschenkt zu bekommen.“ Im Jugendbildungs­zentrum Centro de Menores beispielsweise habe eine Partnerorgani­sation aus den Niederlanden ausdrücklich darauf bestanden, alle Materialien oder Hefte kostenlos zu verteilen. Eines Tages aber stie­gen die Niederländer aus, der Geldstrom versiegte, mit den Gratis-Materialien war es vorbei. „Die Leute sind über uns, die Träger die­ses Jungendzentrums, hergefallen und haben behauptet, ihr beraubt uns, die schicken doch alles, ihr steckt das Geld in eure eigenen Taschen!“

Diese Mentalität habe sich festgesetzt und es sei sehr schwer, daran etwas zu ändern. Die Stadt, so erzählt Martínez, baue Häuser, um Wohnraum zu schaffen, eine Art sozialer Wohnungsbau. Die einfa­chen Behausungen kosten die Kommune fünf- bis sechstausend Dol­lar. Die Familien, die dort einziehen, müssen dreihundert Dollar bei­steuern, einen eher symbolischen Betrag, um die Begünstigten in die Verantwortung zu nehmen. „Aber manche weigern sich, auch nur diesen kleinen Anteil zu bezahlen.“ Sie wollen die Häuser geschenkt – und wettern, die Stadt bestehle sie, wenn daraus nichts wird.

Eine solche Anspruchshaltung macht Richard Martínez zornig. Er empfindet sie als würdelos. Viele Leute verharrten in einer Haltung der Inferiorität und weigerten sich, Verantwortung für ihr eigenes Leben zu übernehmen. Das sei das eigentlich Fatale.

Und heute? Auch bei Projekten im Rahmen der Städtepartnerschaft mit Köln fließen große Summen. Fördert nicht auch das die Menta­lität des Nehmens, den Asistencialismo?
Eben nicht, lautet Martínez´ Antwort.

Die Zirkusarena, die Erosionsbarriere oder die neue Recyclinganlage zur Abfallbewirtschaftung seien keine Almosen, sondern Infrastruk­turprojekte. „Wir haben 2012 einen Plan Climático, einen Klima­schutzplan ausgearbeitet und unterzeichnet.“ Diese Vorhaben wer­den gemeinsam geplant, ihre Durchführung liegt in der Hand der Stadtverwaltung von Corinto und die Gemeinde muss stets einen Teil der Kosten selbst aufbringen. „Wenn Köln Maschinen bezahlt, die wir benötigen, dann müssen wir hier aus eigener Kraft in der Lage sein, den Unterhalt dafür zu bestreiten. Wir wollen uns nicht abhängig ma­chen.“ Auch Jugendaustausch und Zirkusartistik seien ein kulturelles Angebot, das Geld koste, aber nichts, woran Einzelne sich berei­chern könnten. Das Müllrecycling werde Arbeitsplätze schaffen, also Einkommen, das helfe den Leuten, aber auch das sei eben kein Ge­schenk. Wer einen Nutzen hat, muss auch etwas beitragen, in ge­meinsamer Verantwortung. „Es dauert lange, eine Mentalität zu ver­ändern, die über Jahrzehnte bequem war und immer wieder bestärkt worden ist.“ Aber wer aus der Abhängigkeit herauswill, für den gibt es keinen anderen Weg.

Rundgang Corinto

Schwer tritt Luís in die Pedale. Keine Gangschaltung. Eine Fahrt ko-stet 10 Córdobas, also 30 Cent, in Euro gerechnet. Mir ist etwas un-wohl in meiner Haut. Ich fühle mich wie ein britischer Kolonialbeam-ter, der sich von einem ausgemergelten Tagelöhner durch die Ge-gend kutschieren läßt. Aber Luís beruhigt mich. Jeder fahre Tricyclo in Corinto, auch er, in seiner Freizeit, das sei ganz normal, und das kleine Zusatzeinkommen sei ihm sehr willkommen.

Es ist heiß in Corinto. Und schwül. Mein Hemd klebt sacknass am Leib. Dabei habe ich noch den besseren Teil erwischt.

Hinter mir verrichtet Luís seinen Dienst am öffentlichen Personen­nahverkehr. Er fährt mich mit seinem Tricyclo durch die Stadt, einer Fahrradrikscha. An die Stelle des Vorderrads ist ein Metallrahmen geschweißt, darauf zwei Bänke, die maximal vier Personen Platz bieten. Um die 500 dieser Vehikel transportieren ihre Passagiere durch Corinto.

Schwer tritt Luís in die Pedale. Keine Gangschaltung. Eine Fahrt ko­stet 10 Córdobas, also 30 Cent, in Euro gerechnet. Mir ist etwas un­wohl in meiner Haut. Ich fühle mich wie ein britischer Kolonialbeam­ter, der sich von einem ausgemergelten Tagelöhner durch die Ge­gend kutschieren läßt. Aber Luís beruhigt mich. Jeder fahre Tricyclo in Corinto, auch er, in seiner Freizeit, das sei ganz normal, und das kleine Zusatzeinkommen sei ihm sehr willkommen.

Luís Montes Lindo ist ein Kerl, den man nicht leicht übersieht. Wuch­tig, humorvoll, zugewandt und ziemlich autoritär als Ausbilder im Zir­kus Colorinto. Im Hauptberuf schuftet er als Hafenarbeiter. Immer auf Abruf. Wenn ein Schiff anlegt, muss er ran, zu jeder Tages- oder Nachtzeit. Nicht selten erscheint er völlig übernächtigt zum Training. Im Zirkus Colorinto jongliert Luís mit Keulen und dem Diabolo. Und wenn die Artisten übereinander zu einer Pyramide in die Höhe klet­tern, ist er einer der kräftigen Jungs ganz unten, die das akrobatische Gebäude tragen. An manchen Wochenenden verhilft ihm die Artistik zu einem Job, als Clown auf Kinderfesten oder Geburtstagsfeiern. Außerdem, nicht zu vergessen, ist er Unternehmer. Das Tricyclo gehört ihm. Was er damit verdient, muss er mit niemandem teilen.

Puerto Corinto besteht im Wesentlichen aus Lagerhallen, Containern und Schwerlastern. Es ist der mit Abstand wichtigste Hafen Nicara­guas. Nur hier können große Tanker, Containerschiffe und Schüttgut­frachter anlegen. Wenn ein Schiff entladen wird, donnern jeden Tag 300 bis 500 LKW durch die kleine Stadt. Und – es wird fast immer ein Schiff entladen. Der größte Teil des nicaraguanischen Außenhan­dels wird hier umgeschlagen.

Im Zentrum, am Parque Central, steht eine kleine, buntbemalte Dampflok. Sie sieht aus wie die treue Emma von Lukas dem Loko­motivführer und erinnert daran, dass es hier mal eine Eisenbahnlinie gegeben hat. Seit 1882 hat diese Bahn Menschen und Fracht beför­dert, über hundert Jahre lang. Wechselnde Regierungen haben sie nach und nach verrotten lassen und so lange nichts investiert, bis nichts mehr zu retten war.

Heute wird der Löwenanteil dessen, was das Land einführt oder ver­kauft, von Lastern transportiert. Über eine einzige, zweispurige Straße. Und über eine einzige Brücke zum Festland.

Vor dreißig Jahren lag Staub in der Luft in Corinto. Nur die wichtig­sten Straßen hatten einen festen Belag, die übrigen bestanden aus Erde und Geröll und versanken bei Regen im Schlamm. Zu Beginn des Jahrtausends hat die Stadtverwaltung begonnen, konsequent zu investieren. Heute sind fast alle Straßen gepflastert oder asphaltiert.

Luís spendiert eine Tricyclo-Runde um den Parque Central. Ein dreibeiniger Uhrturm aus Beton überragt den weitläufigen Platz, blau, gelb und rosa gestrichen. Gepflegte Bäume und Pflanzen spenden in der Hitze ein wenig Schatten und Labsal für´s Auge. Ich blicke mich um: Ein Discounter, ein Schnellrestaurant, ein kleiner kommunaler Markt, die Kirche. Ihr gegenüber haben die Corinteños ein wuchtiges Denkmal errichtet. Es erinnert an den verstorbenen Gemeindepfarrer Padre José, der 1933 als Josef Schendel in Rheine/Westfalen auf die Welt gekommen ist und dem Corinto viele soziale Werke ver­dankt.

Im Cafetín La Bodeguita gibt es preiswertes Essen und eiskaltes Bier. Gleich um die Ecke liegt ein düsterer Billardsalon, schwitzende Gestalten, achtlos gestapelte Getränkekisten, Zigaretten, Bier, drei alte Billardtische, rauer Umgangston und keine einzige Frau. Ein paar Straßen weiter lärmt eine Automatenspielhalle. Einige Familien haben in ihren Privathäusern improvisierte Fitnessstudios eingerich­tet, indem sie die nötigen Geräte kurzerhand in ihren Wohnzimmern dem Publikum anbieten.

Das Angebot für junge Leute, sich zu amüsieren, ist sehr überschau­bar in Corinto.

Viele Häuser sind aus Holz gebaut, mit Wellblech auf dem Dach und Fenstern ohne Glas, die ebenso wie die Eingangstür von Metallgit­tern gesichert werden. Nicht wenige Familien müssen sich mit ein oder zwei Zimmern begnügen, in denen gelebt, gelernt, geliebt, ge­gessen und geschlafen wird. Vorhänge aus Stoff, die eine Ecke ab­teilen oder ein Bett verhüllen, simulieren so etwas wie Privatsphäre. Wenn der Abend dämmert, beleuchtet fahles Neonlicht die hellgrün, blau, pink oder rosa gestrichenen Wände. Männer und Frauen, Alte und Junge sitzen dann in Schaukelstühlen aus Holz vor ihren Häu­sern, das Hemd hochgeschoben, ein Smartphone in der Hand, und baden in der Hitze, mit der die Nachmittagssonne ihre Straße geflutet hat.

Gleich hinter dem Parque Central, nur ein paar Schritte entfernt, liegt eines der Tore zum Hafen. Ein stacheldrahtbewehrter Zaun hält Un­befugte fern. Dahinter türmen sich die Container internationaler Spe­ditionen. Der Hafen gehört nicht der Stadt, sondern dem nicaraguani­schen Staat. Die Einnahmen fließen nach Managua. Die kommunale Verwaltung ihrerseits muss zusehen, wie sie die Straßen instand hält, die von der endlosen Kette an Schwerlastern verschlissen wer­den. Etwas weiter im Nordosten, unmittelbar neben dem Wohnviertel El Playón, drängen sich die Tanks für Mineralöl, Gas oder pflanzliche Öle, also für alles, was fließt. Auch für die Versorgung Nicaraguas mit Treibstoffen ist Corinto das Nadelöhr.

Wieder eine Fahrt mit dem Tricyclo. Am späten Mittag, mit der Kon­kurrenz, Luís war unabkömmlich. Ein alter Mann steigt zu. Betrachtet mich. Erst erstaunt, dann amüsiert. Fragt, wo ich herkomme. ¡Ah, que bueno, Alemania! Wie das denn so funktioniert mit den beiden deutschen Staaten, will er wissen. ¿Alemania capitalista, alemania comunista, de que parte eres tú? Ich versuche zu erklären, dass es seit ein paar Jahren keine zwei Deutschlands mehr gibt. Was ihn nicht anficht. Er möchte mehr wissen über die DDR und wie man da so lebt. Ich bleibe die Antwort schuldig, er referiert weit ausholend über den Gegensatz der Systeme. Schließlich hält die Fahrradrik­scha vor einem unscheinbaren Holzhaus, offenbar eine Kneipe. Der Alte rappelt sich hoch, klettert müde aus dem umgebauten Velo und ordnet zerstreut Gedanken, Glieder und Kleidung. Dann richtet er sich auf. Dreht sich noch einmal um. Schmettert mir zum Abschied ein akzentfreies „Heil Hitler!“ entgegen und verschwindet in der Kneipe, um sich zu betrinken.

Dr. Achim Schmitz-Forte
November 2018

Schüler pflanzen Mangroven

Mit vier Booten sind wir vor ein paar Stunden in den frühen Morgen hinausgefahren. Claire, Schülerin an der Europaschule in Kerpen, Jan, der die Willy-Brandt-Gesamtschule Köln-Höhenhaus besucht, und viele andere Artisten, Schüler, Holzsammler und Fährleute aus Corinto, Köln, Kerpen und Managua.

Mit vier Booten sind wir vor ein paar Stunden in den frühen Morgen hinausgefahren. Claire, Schülerin an der Europaschule in Kerpen, Jan, der die Willy-Brandt-Gesamtschule Köln-Höhenhaus besucht, und viele andere Artisten, Schüler, Holzsammler und Fährleute aus Corinto, Köln, Kerpen und Managua.

In voller Fahrt glitten die Lanchas durch eine grandiose Kulisse: Stahlblauer Himmel, das glitzernde Meer und eine Kette von sieben Vulkanen, deren Konturen in den Horizont gezeichnet sind.

Über dem San Cristóbal steht eine Wolke aus Magmadämpfen. Er ist gut 1700 Meter hoch und dominiert die Szenerie.

Immer tiefer sind wir in die Verästelungen der Wasserarme in den Mangrovenwäldern vorgedrungen. Jetzt, bei Ebbe, stehen die roten Mangroven wie auf Spinnenbeinen im Brackwasser.

Vor uns liegt eine feuchtglänzende Fläche, die im Niedrigwasser tro­cken gefallen ist. Schlammbedeckte Gestalten staksen in der schlei­migen Masse. Manche versinken bis zum Knöchel. Andere bis zum Knie oder zur Hüfte. Die geschickteren unter ihnen schaffen es, gut zwanzig Zentimeter lange Pflanzenteile im Morast zu verankern, die aussehen wie tropfenförmige Zweige. So ordentlich wie möglich. Immer schön in Reih und Glied.

„Wir pflanzen hier Mangrovensetzlinge.“ Jan bleibt sachlich, während um ihn herum zunehmend erschöpfte Erdgeister kichernd und Sprü­che klopfend mit dem zähen Schlamm ringen. Claire ihrerseits be­schreibt die Umweltbedingungen weniger distanziert: „Schon eklig, das kann man gar nicht beschreiben, es stinkt einfach nur und ist irgendwie abartig.“ Der Schlamm auf der Haut jucke und piekse und schmerze, das sei nicht angenehm. Aber: „Ich finde, es lohnt sich trotzdem, das zu machen“.

Knapp zwölftausend Stecklinge werden heute gepflanzt.

Das Ganze ist kein Zeitvertreib. Es dient dem Küstenschutz. Die Mangrovenwälder dämpfen die Wucht von Stürmen und Flutwellen. Ihre Wurzeln festigen den Untergrund. Sie verhindern Erosion. Das ist lebenswichtig für Puerto Corinto und seine gut 20 000 Einwohner.

Eine rote Mangrove braucht etwa sieben oder acht Jahre, bis sie her­angewachsen ist. In der Umgebung von Corinto erreichen die Bäume eine Höhe von rund acht Metern, wenn sie in Ruhe gedeihen können und kein Holzfäller sie vorzeitig schlägt. Dafür aber gibt es keine Garantie. Oft fällen die Leñadores  die Holzfäller (Begriff erläutern) die jungen Bäume sehr viel früher.

Viele der Holzfäller denken, was soll´s, der Wald regeneriert sich doch von selbst, erklärt mir einer der Umweltaktivisten an Bord. Das aber sei ein Irrtum. Es werde viel mehr entnommen, als auf natür­liche Weise nachwachsen kann. So drohe der Mangrovenwald in raschem Tempo zerstört zu werden.

Deshalb versucht die Stadtverwaltung von Corinto, mit den Leñado­res ins Gespräch zu kommen. Schließlich, so das Argument, sei eine nachhaltige Bewirtschaftung der Wälder langfristig auch in ihrem Sinne. Die regelmäßigen Kampagnen zur Aufforstung der Mangro­ven sind Teil dieser Öffentlichkeitsarbeit.

Claire, Jan und die anderen Schülerinnen und Schüler aus Köln und Kerpen haben nicht das Gefühl, dass ausgerechnet sie den Mangro­venwald zu retten vermögen. Zu überschaubar bleibt ihr Erfolg, Stecklinge im Schlamm zu verankern. Beim Waten im Schlick sind ihnen ihre nicaraguanischen Freunde deutlich überlegen. Aber sie hoffen auf die symbolische Botschaft, die ihr Einsatz in Corinto hinterlassen soll: Wenn diese jungen Leute eigens den weiten Weg aus Deutschland kommen, um bei uns mit Mangrovenfrüchten in der Hand durch den Morast zu robben, dann muss es doch tatsächlich wichtig sein, oder?

Tricyclos

Vor gut anderthalb Jahrzehnten begann das Tricyclo, den öffentli-chen Personennahverkehr in Corinto zu revolutionieren.

Vor gut anderthalb Jahrzehnten begann das Tricyclo, den öffentli­chen Personennahverkehr in Corinto zu revolutionieren.

Eine Soap Opera im Fernsehen lieferte die Inspiration. Das ist nicht ungewöhnlich in Lateinamerika. In diesem Fall entspannen sich die genretypischen Liebesqualen, Ehedramen und Machtintrigen im Milieu kolonialer Zeiten irgendwo zwischen Japan, Indochina oder den Straßenschluchten von Shanghai. Fahrradrikschas, in Nicaragua bis dahin vollkommen unbekannt, spielten im Fluss der Handlung eine offenbar nicht unwichtige Rolle, so erzählt man in Corinto. Irgendjemand hat die Idee aufgegriffen, hat seinen Drahtesel genom­men, ihn zum Fahrradtaxi umgeschweißt und begonnen, eine Dienst­leistung anzubieten, die in Corinto zuvor noch nie jemand gesehen hatte.

Die Zeit war reif. Noch ein paar Jahre zuvor wäre eine solche disrup­tive unternehmerische Initiative undenkbar gewesen. Die Straßen der Stadt, von den Hauptverkehrswegen abgesehen, bestanden aus Erde und Geröll, voller Schlaglöcher und Unebenheiten. Bei Trocken­heit versanken sie im Staub, bei Regen im Morast. Erst um die Jahr­tausendwende begann eine konsequente Sanierung. Heute sind fast alle Straßen von Corinto gepflastert oder asphaltiert. Endlich konnten sich die Corinteños mit muskelkraftbetriebenen Zwei- oder Mehrrä­dern durch die Stadt bewegen, ohne Leib und Leben zu riskieren.

Am Anfang wollte niemand einsteigen. Vor allem die Männer blieben scheu. Sie schämten sich. Das sieht doch albern aus. Und was sollen die Leute denken, wenn ich mich von einem anderen Kerl durch die Gegend fahren lasse! Doch die Tricyclos wurden immer stabiler, immer komfortabler und eroberten die Stadt.

Die Kommunalverwaltung sah Regulierungsbedarf. Die Fahrer beka­men Lizenzen, Vorschriften und Kurse betreffend diverser Sicher­heitsfragen. Ein Tricyclo sollte Vorder- und Rücklicht haben und nach Möglichkeit davon absehen, einem Schwerlaster spontan die Vor­fahrt zu nehmen. Auch Englischkurse werden den Fahrern angebo­ten. Von Zeit zu Zeit legen im Hafen Kreuzfahrtschiffe an. Die Touris­ten auf Landgang finden die Rikschas pittoresk. Für die Fahrer ist das ein gutes Geschäft.

Inzwischen scheinen die Tricyclos in Corinto allgegenwärtig zu sein. Es genügt, die Augen zu öffnen und sich einmal nach links und rechts zu wenden, schon fällt der Blick auf einen jungen Kerl, der lässig oder gelangweilt an seinem Verkehrsmittel lehnt und nach Fahrgästen Ausschau hält.

Etwa 500 der pedalgetriebenen Fahrzeuge gibt es in der Stadt. Rund 300 davon haben eine Lizenz. Ihr Revier ist die Innenstadt. Fahrrad­rikschas dürfen im Gegensatz zu Taxis nur Distanzen bis zu drei Kilometern fahren. Unter der Hand ist das allerdings eine Frage des Preises. Bislang bleibt diese Art des Transports ein Gewerbe der Kleinstunternehmer. Manche Fahrer haben zwei oder drei Cyclos und beschäftigen ein paar kräftige Jungs als Fahrer, das ist das Äußerste an Unternehmenskonzentration. Noch gibt es keine Tricy­clo-Oligarchen. Und die Stadtverwaltung möchte auch, das dies so bleibt.

In ganz Nicaragua gelten die Rikschas inzwischen als ein Wahrzei­chen der Hafenstadt Corinto. Aber – ist diese Art der Fortbewegung nicht Ausbeuterei? Nein, sagt Stadtdirektor Richard Martínez. Natür­lich strenge es an, es lauge aus, das Drei- oder Vierfache des eige­nen Gewichts durch die Gegend zu kutschieren. „Aber das hat nichts Abwertendes oder Demütigendes, es ist kein Klassensymbol. Das Tricyclo steht nicht für koloniale Unterwerfung. In dieser Stadt ist die Fahrradrikscha eine Notwendigkeit. Ein Arbeitsplatz. Eine Möglich­keit, zu überleben.“ Manche Fahrer bringen damit ihre Familien durch. Andere freuen sich über das willkommene Zusatzeinkommen. Auch die Kundschaft sei egalitär. „Das ist Teil unserer Lebensart ge­worden. Alle fahren damit. Der Bürgermeister genauso wie ein Arbei­ter. Ich selbst fahre immer Tricyclo, wenn es irgend geht. Das Taxi nehme ich nur in Notfällen, wenn es ganz schnell gehen muss.“ Er hält inne. Ein Argument fehlt noch. Richard Martínez schmunzelt, bevor er die Pointe plaziert. „Und die Ökobilanz – keine Abgase, kein Smog, einfach perfekt!“

Waste Pickers – Recicladores

Die Abfallwirtschaft wird in Corinto sehr rustikal gehandhabt. Der Müll aus Haushalten, Firmen, Geschäften, Märkten, Werkstätten oder Restaurants landet auf einem Gelände im Norden der Insel, dem das traurige Los zuteil wurde, zur Deponie erklärt zu werden. Dort wird der Unrat abgekippt. Immer eine Fuhre über die andere. Und sich selbst überlassen.

Die Abfallwirtschaft wird in Corinto sehr rustikal gehandhabt.

Der Müll aus Haushalten, Firmen, Geschäften, Märkten, Werkstätten oder Restaurants landet auf einem Gelände im Norden der Insel, dem das traurige Los zuteil wurde, zur Deponie erklärt zu werden. Dort wird der Unrat abgekippt. Immer eine Fuhre über die andere. Und sich selbst überlassen.

Es gibt keinen Zaun. Die Halde ist frei zugänglich und jeder lädt ab, was er gerade loswerden will, Elektroschrott, Altöl, Scherben, scharf­kantige Bleche, gebrauchte Spritzen. Oder Tierkadaver. Ja, Señor, ungelogen, selbst tote Pferde verwesen hier, sie werden hier einfach auf den Müll geworfen! – berichtet ein Mann, der in der Nähe wohnt.

Die Deponie ist in allen Himmelsrichtungen von Wasser umgeben und liegt nur knapp über dem Meeresspiegel. Im Westen brandet der pazifische Ozean, der das Gelände beim nächsten großen Sturm zu überfluten droht. Im Osten erstreckt sich die riesige Lagune mit ihren weitverzweigten Mangrovenwäldern. Gleich nebenan haben Men­schen ihre Behausungen errichtet. Die Umweltgefahren, die von die­ser Mülldeponie ausgehen, sind offensichtlich.

Vicente Reyes hat schon vor der Revolution auf dem Müll gearbeitet, also vor mehr als 40 Jahren, damals lag die Deponie noch anderswo, auf dem Festland. Juana, um die vierzig, mußte schon als Kind ihrer Mutter auf der Müllkippe helfen. Nach diesen Maßstäben ist Lucas Castillo ein Neuling, er arbeitet erst seit 15 Jahren hier. Ihre Berufs­bezeichnung lautet „reciclador informal“, was so viel heißt wie „freiberuflicher Recycler“, ein schamloser Euphemismus für diese Art von Arbeit. Der englische Ausdruck „Waste Picker“ trifft es schon eher. Oder der volkstümliche Begriff Churequero, angelehnt an den Namen einer Müllhalde in der Hauptstadt Managua, die früher mit sieben Quadratkilometern die größte Deponie Zentralamerikas war und die inzwischen saniert worden ist.

Die Churequeros durchwühlen den Müll. Ohne Schutzkleidung, ohne Handschuhe oder Atemmasken, an den Füßen nicht selten Flip-Flops oder Sandalen. Jederzeit können sie sich an einem rostigen Stück Metall schneiden oder in eine infektiöse Injektionsnadel grei­fen. Und natürlich gibt es Ratten und anderes Ungeziefer, das Krank­heiten überträgt. Die Frauen und Männer sammeln, was immer ver­wertbar erscheint, Kupfer, Eisen, Bronze, Aluminium, auch Glas, Kleidung, Papier, Kunststoffe und la pichinga, wie hier die PET-Fla­schen genannt werden. Jeder arbeitet für sich und auf eigene Rech­nung, was die Verhandlungsmacht gegenüber den Zwischenhänd­lern gegen Null tendieren läßt. Die Aufkäufer fahren mit dem Klein­laster vor, bezahlen Preise, die sie selbst diktieren und schaffen die Wertstoffe nach Managua, wo sie die Fuhre mit deutlichem Gewinn weiterverkaufen.

Wie viele Menschen hier arbeiten? Das wechselt, sagt Richard Martí­nez, der Stadtdirektor von Corinto. Mal zwanzig, mal dreißig, es kommt darauf an. Insgesamt, so Martínez, reden wir von rund fünfzig Personen, die als Müllsammler ihren Lebensunterhalt bestreiten. Viele davon haben noch andere Jobs, je nach Saison. Während der Erntezeit beispielsweise arbeiten manche auf dem Acker, wenn die Ernte vorbei ist, kommen sie wieder her. Es sind ganz unterschied­liche Leute darunter. Manche haben durchaus eine Ausbildung und einen Beruf. So wie der Radiotechniker, der keine Aufträge mehr be­kommt, weil die Kunden ihre Radios nicht mehr reparieren lassen, sondern lieber neue kaufen. Nun bessert er hier sein Einkommen auf. Ein anderer war früher bei der Polizei. Die meisten aber sind irgendwann auf der Suche nach einer Arbeit hier gestrandet – und geblieben.

Zusammen mit ihren Städtepartnern in Köln will die Gemeinde Corinto das Gelände nun nach und nach sanieren, ohne den Waste Pickern die Lebensgrundlage zu nehmen. In einem ersten Schritt wird eine Anlage zur Sortierung des Abfalls installiert. Die Chure­queros stapfen dann nicht mehr kreuz und quer durch den Unrat, sondern haben ein festes Fundament unter den Füßen und ein Dach über dem Kopf. Sie bekommen Schutzkleidung und werden unter halbwegs hygienischen Bedingungen an einem Laufband die zum Recycling geeigneten Materialien aus dem Restmüll sortieren. Anschließend wird der Ertrag in einer Presse zum Transport und Verkauf vorbereitet. Ein Entsorgungsspezialist aus Köln hat die Stadtverwaltung von Corinto bei der Planung der Anlage beraten. Die nötigen Maschinen hat die Gemeinde aus Deutschland beschafft.

Das Projekt ist mit 555.000 Euro kalkuliert und wird zu 90 %  mit Mitteln des deutschen Ministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit finanziert. 55.000 € muss die Gemeinde Corinto selbst aufbringen.

Wer aber soll die Wertstoffe vermarkten? Den Churequeros wäre es am liebsten, die Gemeinde selbst würde die Anlage betreiben und ihnen als Angestellte einen festen Lohn bezahlen. Das aber hält die Stadtverwaltung für nicht finanzierbar. Stattdessen sollen die Waste Picker in einer Kooperative gemeinsam wirtschaften, um Zwischen­händler ausschalten und akzeptable Preise durchsetzen zu können.

Inzwischen ist Lucas Castillo zum Presidente de la Cooperativa de Recicladores gewählt worden. Aus dem wilden Müllsammeln wird ein Beruf. Die Churequeros hoffen, dass die Zusammenarbeit in der Kooperative ihnen so etwas wie ein stabiles Grundeinkommen ga­rantieren wird, das ihren Lebensunterhalt sichert, wenigstens zum Teil. Im Frühjahr 2019 soll die Müllsortieranlage in Betrieb gehen. Dann wird sich erweisen, ob der Plan gelingt.

Dr. Achim Schmitz-Forte
November 2018

Zirkus im Circo Colorinto

Das Zirkusgebäude in Corinto ist leicht zu finden. Es liegt gleich hinter dem Busbahnhof, nicht weit vom Strand. Einfach nach der Avenida Colonia fragen - der Köln-Allee.

Das Zirkusgebäude in Corinto ist leicht zu finden. Es liegt gleich hinter dem Busbahnhof, nicht weit vom Strand. Einfach nach der Avenida Colonia fragen – der Köln-Allee.

Am Tor des Circo Colorinto prangen die Wappen der Schwester­städte: Elf schwarze Tränen für Köln, ein archaischer Anker im Emblem von Corinto.

Im Zirkus wird geprobt. Schülerinnen und Schüler aus Köln und Ker­pen trainieren gemeinsam mit jugendlichen Artisten aus Corinto.

Eine Gruppe Tänzerinnen studiert ihre Hula Hoop-Choreografie ein. Ein paar Jungs üben Rola-Bola, ein halsbrecherisches Kunststück, bei dem ein Artist mit einem Brett unter den Füßen auf einem rollen­den Zylinder balanciert, der seinerseits auf einem wackligen Tisch hin und her kullert.

Einräder proben ihren Einsatz. Muskulöse Körper bauen mensch­liche Pyramiden. Miriam aus Köln turnt hoch in der Luft und beweg­lich wie eine Katze zwischen zwei senkrechten Tüchern.

Artistiktrainerin Janina dirigiert die Stelzenläufer, die etwas unsicher über die Bühne schwanken. Luís Ángel aus Corinto trägt stolz ein Trikot des FC Barcelona und ist vor ein paar Sekunden böse auf sein Knie gestürzt. Ohne zu jammern rappelt er sich auf.

Die Show, die hier entsteht, soll keine simple akrobatische Num­mernrevue werden. Sondern eine Art circensisches Theaterstück. „Wir wollen zeigen, wie wir unseren Mangrovenwald zerstört haben, wir haben Brennholz zum Kochen daraus gemacht, haben Häuser daraus gebaut“, erklärt Artistiktrainer Luís. „Aber die Mangroven sind ein Schutz gegen Tsunamis, gegen Hurricans und gegen Sturm­fluten. Wenn wir weiter abholzen, riskieren wir ein Chaos hier in Corinto.“

Pädagogik ist der Todfeind der Kunst, sagen griesgrämige Theater­kritiker. Das mag stimmen. Spielt hier aber keine Rolle. Im Circo Co­lorinto geht es um Lebensfreude, Begegnung, Freundschaft, gemein­samen Sport. Auch um Vertrauen und Verantwortung, denn Artisten müssen sich aufeinander verlassen können, wenn sie riskante Num­mern üben.

Seit nun schon dreißig Jahren fühlen sich Corinto und Köln als Part­nerstädte verbunden. In den vergangenen zehn Jahren haben sich die Kontakte und Freundschaften deutlich intensiviert. Die regelmäßi­gen gegenseitigen Besuchsreisen junger Zirkusartisten aus Köln und Corinto sind zum Kristallisationspunkt und Ferment dieser Freund­schaft geworden. In Köln: Die Radelitos, ein Schulzirkus, gegründet 1992 an der Willy-Brandt-Gesamtschule in Köln-Höhenhaus. In Nica­ragua: Die Colorintos.

Das Gebäude des Circo Colorinto haben Köln und Corinto 2013 ge­meinsam errichtet. Seine Architektur zitiert die beiden Türme des Kölner Doms, erzählt Architekt Hector Romero, der leitende Planer. Aber das sieht ehrlich gesagt nur, wer es weiß. Ein großes Dach auf einer Stahlkonstruktion überwölbt das eigentliche Gebäude und die großzügigen Trainingsflächen für die Artisten. Es gibt einige Innen­räume, eine Dachterrasse, sanitäre Anlagen, eine Küche und einen Speiseraum unter freiem Himmel.

Denn dieser Zirkusbau ist zugleich ein Katastrophenschutzzentrum.

Rund 200 Menschen können hier Zuflucht finden bei Überschwem­mungen, Tsunamis, Erdbeben oder Vulkanausbrüchen – alles sehr reale Gefahren in Corinto. „2015 hatten wir eine Woche mit 14 Erd­stößen“, erzählt der Architekt. „Wir sind hier nur 140 Kilometer von der Linie entfernt, an der die karibische Kontinentalplatte und die Cocosplatte aufeinander stoßen. Wenn da der Boden des Ozeans bebt und eine Tsunamiwelle entsteht, dauert es weniger als zehn Minuten, bis die erste dieser Wellen Corinto überflutet.“

Knapp 120.000 Euro hat der Ausbau des Mehrzweckgebäudes gekostet. Die Städte Corinto und Köln haben sich mit kleineren Summen beteiligt. Rund 85% der Mittel stammen aus einem Projekt zur Förderung kommuna­ler Klimapartnerschaften der deutschen Entwicklungsorganisation Engagement Global.

Wenn die jungen Artisten aus Köln nach Corinto kommen, wohnen sie und ihre Betreuer im Zirkusgebäude, unter sehr einfachen Bedin­gungen. In den kahlen Räumen im Erdgeschoß ist es heiß und erdrü­ckend stickig. Es gibt keine Betten, nur Matratzen oder den Betonbo­den. Viele ziehen eine andere Lösung vor. Auf der Dachterrasse hängt eine ganze Phalanx von Moskitonetzen in Reih und Glied. Dar­unter liegen die Matratzen der Jugendlichen, die hier oben immerhin frische Luft und mit etwas Glück in der Nacht auch einen leichten Wind genießen können.

„Ich war bisher schon dreimal hier, das ist jetzt das vierte Mal“, er­zählt Timo Kliesch im Oktober 2017. „Das ist halt pure Freude, so ein Auftritt hier.“ In Corinto trifft er seine Artistenfreunde, die er schon lange kennt und wundert sich dabei stets aufs Neue, dass sie ge­meinsam eine Zirkusnummer hinbekommen, obwohl sie sich nur rudimentär verständigen können. „Teilweise sind die artistisch besser als wir in Köln, weil die das wirklich mit Leidenschaft machen, das Training hier.“

Der Anwalt Henry Lara aus El Realejo, einer Nachbargemeinde von Corinto und ebenfalls Partnerstadt von Köln, war unter den Gründern und einige Jahre im Zirkus aktiv „Die Idee ist 2005 ent­standen“, erinnert er sich. „Damals kam eine Gruppe der Radelitos aus Köln zu uns und wir haben gemeinsam den Circo Colorinto aus der Taufe gehoben.“ Zu dieser Zeit haben die rund 30 Jugendlichen einfach auf der Straße trainiert. Ein Trainingsgelände gab es nicht. Der Zirkus habe Jugendlichen aus schwierigen sozialen Verhältnis­sen etwas anbieten wollen, sagt Lara, einen Ort, an dem sie sich spielerisch die Zeit vertreiben und etwas lernen können, statt irgend­wo herumzuhängen oder Drogen zu nehmen. „Und – das haben wir geschafft.“

Doch das ist nicht alles. „Wenn es hier wirklich nur darum ginge, ein wenig Zirkustraining zu machen, dann wäre doch längst niemand mehr da.“ Mit den Reisen und Begegnungen zwischen jungen Arti­sten und ihren Familien in Köln und Corinto seien Freundschaften entstanden, herzliche Bindungen, Vertrauen und Motivation. „Man hat uns immer eingeredet, die Deutschen seien kalt, reserviert und sehr engstirnig.“ Henry Lara grinst breit, als er das sagt, lacht auf und schaut zum Zirkustor hinüber. „Aber die Deutschen, die wir kennen­gelernt haben, die haben uns nicht nur die Türen ihrer Häuser, son­dern auch ihr Herz geöffnet. Die waren enorm zugewandt und gast­freundlich zu uns.“

Deglis Rocha trainiert schon seit vielen Jahren im Zirkus. Muskulös, athletisch, ein talentierter Artist. Sein Vater war Seemann, die Mutter hat früher die Qualität von Garnelen in einem Fischereibetrieb kon­trolliert. Deglis selbst studiert Medizin. „Früher war ich ziemlich men­schenscheu, hab´ mit keinem geredet“, erzählt er. „Es war schwierig, aber hier im Zirkus habe ich gelernt, die Schüchternheit abzulegen, das hat mir sehr geholfen, auch beim Studium.“ Schon zweimal hat er Deutschland besucht. Längst arbeitet er als Trainer, der die Jün­geren anleitet. Das sei anstrengender, als er erwartet hat, er habe selbst viel trainieren und dazulernen müssen: „Die Kids sind an­spruchsvoll. Ich zeige ihnen eine verzwickte Akrobatik und denke, das war vielleicht zu viel, mal sehen, ob sie das hinbekommen. Und was passiert? Sie stellen sich ihn und sagen – hey, Deglis, was soll das? Zeig´ uns was Richtiges, wir wollen schwierige Tricks lernen!“